Gott vertrauen
Publik-Forum 19/2022

Gott vertrauen

Navid Kermani über den Schatz religiöser Traditionen in einer taumelnden Welt

Liebe Leserin,lieber Leser,

Navid Kermanis aktuelles Buch trägt als Titel einen Satz aus der islamischen Tradition. Im elften Jahrhundert, als der berühmte islamische Mystiker Scheich Abu Said nach Tus kam, war die Moschee übervoll. Also rief der Platzanweiser: »Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.« Daraufhin soll der Scheich, ohne vor der Menge zu sprechen, wieder abgereist sein, denn: »Alles, was ich sagen wollte und sämtliche Propheten gesagt haben, hat der Platzanweiser bereits gesagt.«

In diesem Buch versucht ein Vater, seiner zwölfjährigen Tochter den Islam zu vermitteln, »unseren Islam«, den Islam, den sein Vater als Kind im Iran kennenlernte. Es ist ein Islam, der Gottvertrauen vermittelt angesichts der Unendlichkeit, die uns umgibt. Und in dem es wichtiger ist, ein guter Mensch zu sein als ein guter Muslim. Ich habe gemeinsam mit Michael Schrom mit Navid Kermani darüber gesprochen, warum es wichtig ist, Religion weiterzugeben. Meinen Kollegen beschäftigt die Frage als Vater eines Sohnes im gleichen Alter auch persönlich. Sie finden das Gespräch auf Seite 28. Wir freuen uns auf Ihre Gedanken dazu.

Wenn man dieses Buch liest, erscheint es umso absurder, dass im Iran im Namen des Islams eine Frau stirbt, die ihr Kopftuch angeblich falsch gebunden hatte. In der Bevölkerung wächst die Wut darüber. Maryam Mardani ist im Iran aufgewachsen; sie schreibt: »Obwohl ich vor einigen Jahren geflohen bin, trage ich noch immer die Wut der Gesellschaft dort in mir.« Auf Seite 24 lesen Sie, wie die Journalistin die Proteste nach dem Tod von Masha Amini einschätzt.

Am Tag nach dem Gespräch mit Navid Kermani besuchte ich eine Tagung zur Zukunft der Erinnerungskultur. Es ging darum, wie es möglich ist, der Kolonialverbrechen zu gedenken, ohne den Holocaust zu relativieren; wie es möglich ist, den Schmerz der einen zu verstehen, ohne das Leiden der anderen zu bagatellisieren, auch im Nahostkonflikt (Seite 48). Da musste ich wieder an diesen Satz denken: »Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.« Ich stelle mir vor, wie die Welt wäre, wenn Menschen öfter einen Schritt aus ihrem Standpunkt heraustreten würden, wie sie dabei stiller werden – um besser verstehen zu können. Und hoffe, dass dieses Heft Ihnen dabei ein guter Begleiter ist.

Anne Strotmann

Verlag: Publik-Forum; 64 Seiten
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